Wohin das Auge blickt

(- von maurice de malheur)

„Strand, Hornmohn mit sehr großen Blüten, Spritzgurke, von außerordentlicher Elastizität.“

(Ernst Jünger, Drei Mal Rhodos, 20.5.1964)

Man muß Franziska Giffey unbedingt recht geben, wenn sie meint, daß sich an Silvester ein bislang unbekanntes Maß an schockierendem Verhalten und intensiver Verrohung gezeigt habe. Was war passiert?

Eine gleichrangige Kreuzung im Rostocker Bahnhofsviertel.  Wer von rechts kommt, hat automatisch Vorfahrt, solange die Vorfahrt nicht anderweitig geregelt ist. Die Verkehrsteilnehmer aus den anderen Richtungen sind wartepflichtig.

Es gab keine anderweitige Regelung. Ich kam von rechts. Er (von links) bremste hart, dann sah ich, wie der ältere Herr hinter seiner Frontscheibe ausrastete. Mir einen Vogel zeigte. Wie er mit der Hand vor seinem Gesicht hin- und herwischte.

Kurz meinte ich zu hören, daß er: „Oh, Baby Baby, ballaballa!“ brüllte, so wie der Vollidiot Albert Wagner, in den Neunzehnachtzigern gefürchteter GST-Fahrlehrer in Hagenow/Südwestmecklenburg, hauptberuflich Hundefriseur, aber von Berufung Rumpelstilzchen, Mädchenbegrapscher, fatalerweise Mopedführerscheinaussteller und leider tollwütig.

Aber eben auch mittlerweile tot, daher keiner irdischen Gerichtsbarkeit mehr zur Verfügung stehend.

Dagegen immer noch das Gekläffe aus dem schuldigen Automobil. Der Kopf des entgleisten Mannes  war mittlerweile auf Schlaganfallniveau angeschwollen. Man hätte wohl direkt vor ihn hinfahren können, um gespannt zu warten, wann die platzenden Gefäße ihn aus seinem falschen Sein erlöst hätten. Hinterher weiß man es natürlich immer besser.

Oder man hätte aussteigen sollen, zu ihm gehen, „Nanana“ sagen, und dem alten Sack körperlich Angst machen.

Oder mit der Polizei konfrontieren. Früher hätte sowas vermutlich gereicht, um ihn ängstlich das Weite suchen zu lassen. Ein bißchen Androhung von konsequenter und schneller Strafverfolgung sowie erschwerter Erwerbsmöglichkeit von Auto, Schreckschußwaffe und Führerschein. Und natürlich intensivierte Sozialarbeit. Da wäre der kreischende Senior aber schnell ein ganz ein lieber gewesen.

Leider hatte er sich vermutlich seit einigen Jahren seine Selbstgewißheiten auf Montagsdemonstrationen aufgepeppt. Und den Respekt vor den uniformierten StVO-Bütteln fast gänzlich verloren, wie auch den Glauben an alle Vorfahrtsregeln, die offensichtlich den Protokollen der Weisen von Zion und der Uckermark entnommen waren.

Zorn, so beschrieb es Peter Sloterdijk, sei ein jäher Impuls. Eine Menschenseele hätte nicht die Kraft, ein so starkes Motiv über die Jahre hin aufrecht zu erhalten. Ein Blick in des immer noch tobenden Menschen Gefährt voll dampfender Wut und gesellschaftskritischer Abgase führten diese Annahme ad absurdum. Sloterdijk hatte offensichtlich keine Ahnung von einem Milieu, dessen Mantra der Komiker Moritz Neumeier folgendermaßen beschrieb: „Ich lass mir von einer Uhr doch nicht diktieren, wie spät es ist.“.

In einer gerechten Welt hätte Sloterdijk jetzt mal ein paar Tage mit der motorisierten Menschenseele in deren Auto verbringen müssen.

In der Realität aber hieß es geduldig sein, bis zu dem Tag, an dem eine so weise, wie großherzige Instanz sich solcher Teilnehmer am menschlichen Verkehr annähme, um sie mit aller Härte mal vollständig über ihre Pflichten aufzuklären.

Was bekommt man statt dessen? Neuigkeiten über Christine Lambrecht, ach Gottchen. Was soll denn jetzt diese Aufregung? Hat sie ein Video gedreht und online gestellt? Wirklich? Und?

Eine gelangweilte Zusammenfassung:

  1. Gilt das Böllern hierzulande doch seit spätestens 1972/73 als Ausdruck einer jahresverarbeitenden Lebensfrohheit, vor allem heuer der Frohheit darüber, daß man wieder böllern darf. Kaum etwas war schließlich schlimmer als Böllerverbot. Wann ist eigentlich aus dem schönen Feuerwerk ein Böllern geworden? Eine Frage, die die Witwe von Dr. Helmut Kohl gerne gerichtlich verbieten lassen möchte.
  2. Hallo? Endlich hat man in der Bundesrepublik Deutschland mal wieder ein paar „schwere Geschütze“ rausgerückt. Julian Reichelt und der Hofreiter Anton müßten doch (hoffentlich) vor Freude geplatzt sein.
  3. Lambrecht ist Verteidigungsministerin. Quasi: Chefin der Bundeswehr. Darüber wurde sich oft mokiert. U.a. weil sie keine schöne Uniform hat; die Schnürschuhe nicht gut pflegt; unkriegerisches Auftreten; zwar Frau und so, aber nicht mal ein kleines bißchen Xena, die Kriegerprinzessin…

Und dann, wenn sie jetzt mal eine öffentliche Verlautbarung abdreht, mit viel Bummbumm im Hintergrund – gehört das nicht eigentlich logisch zu ihrer Stellenbeschreibung? Auch das Martialische: Jeder Typ in Tarnuniform wäre doch heutzutage als solidarisches statement durchgegangen. Und die verunglückte Tonspur? Authentisch! Die Dinge, die eine deutsche Sozialdemokratin zur Zeit zu sagen hat, sind halt eher nebensächlich. Neben all dem Bummbumm.

  • O.k., das PR-Desaster.

Hätte sie sich mal einfach in dem Sinne geäußert, daß endlich wieder für Freiheit und Demokratie im Hintergrund geböllert werden kann und daß sie Begegnungen mit interessanten und tollen Menschen wie Andrij Melnyk schätzte.

By the way: in dem Zusammenhang hätte es wohl kaum geschadet, darauf hinzuweisen, daß das ukrainische Volk (Preisträger des Sacharow-Preises für geistige Freiheit) auch dafür den Russen vermöbeln tut, damit in Deutschland irgendwelche Hirnis mit Böllern auf Feuerwehrleute schießen können.

Medienarbeit – das ist doch nun wirklich kein Hexenwerk