mythos

  1. Nochnichthainis.

An einem Sonntag im August, oder war es schon Montag?
So genau lässt sich das nicht sagen.
Die Nacht war nicht richtig dunkel, hell war sie aber auch nicht.
In dieser Nacht forschten drei Nochnichthainis sich auf der kollektiven Suche nach Bier durch den Prenzlauer Berg.
Nichts daran war ungewöhnlich. Es könnte sein, dass sie etwas zu besoffen waren.
Von der Stadt, vom Leben, von ihren Illusionen. Aber He!
Fake it till you make it.
Als sie auf die Wiehießsienoch Straße kamen, allerdings, da kündigte sich doch etwas Ungewöhnliches an.
Zunächst ganz leise, fern, kaum wahrnehmbar.
Ein Chor.
„Hört ihr das auch?“, fragte einer. „Was ist das?“
„Was?“
„Dieses Geräusch, dieses…“
„Miauen?“
„Ja. Miauen.“
„Im Chor.“, sagte der Dritte. Und wiederholte trocken. „In einem jämmerlichen Chor.“
Das war der Musiker, der musste es wissen.
Nun streunten die Nochnichthainis nicht mehr, sie rückten eng zusammen.
Vor-, wie auch umsichtig, näherten sie sich dem Phänomen.
Da es nicht richtig dunkel war, bzw. auch nicht hell, konnten es die drei Nochnichthainis gerade so sehen, aber sie erkannten nicht, worum es sich handelte.
Fest stand eines. Eine im Chor miauende Schlange schien sich von der Hausnummer Habichvergessen, ein gutes Stück die Wiehießsienoch Straße entlang zu ziehen.
Da standen hundert Katzen diszipliniert an einer Schlange an.
Fein und säuberlich, eine hinter der Anderen.
„Seht ihr das auch?, fragte der Musiker stehenbleibend.
Seinen Ohren konnte er trauen. Nicht aber seinen Augen.
„Aber ja doch. Schaut nur!“, sagte der Zweite. Er, der Tänzer, blieb ebenfalls stehen.
Er verlagerte geschmeidig sein Körpergewicht von einem Bein auf das andere, zog seinen schwarzledernen Tabakbeutel aus der Tasche und drehte sich eine Zigarette.
Der Dritte, der Hingucker, ging einen Schritt weiter.
Ohnehin bestand der Verdacht, dass sich sein Konzept von Realität etwas verschoben haben könnte.
So ging er auf die Knie, versuchte, sich seines Schulkatzisch leidlich zu erinnern und begann Konversation mit der letzten, in der Schlange wartenden Katze zu halten.
Nun ist es mit der Fremdsprache so eine Sache. Wird sie beherrscht, so erschließen sich Sinn und Gehalt einer Konversation aufs Genaueste. Wird etwas von ihr aber einfach so hervorgekramt, bedarf es anderer Wahrnehmungstechniken, um eine gewisse Tiefenschärfe herzustellen.
Der Hingucker, der vor der Mieze (Katze) kniete und mit ihr miaute konnte sich, anders als der Musiker, nicht auf seine Ohren verlassen, dafür aber auf seine Augen.
Der Hingucker sah, was er nicht hören konnte.
Das Jämmerliche, das Anbiedernde, in der Körperhaltung der Miezen, die da Schlange standen.
Eine lehnte sogar, betont cool rauchend, an der Hauswand.

Diese Mieze berichtete, dass eine sich in Gründung befindende Kiezzeitung namens B-Berger, C-Berger oder P-Berger (im Bereich der Konsonanten war sein Katzisch besonders schwach), eine Kolumne ausgeschrieben hatte, die exklusiv der Redaktionsmieze (Katze) vorbehalten sein sollte.
Da standen sie nun, die Miezen, wollten in der Redaktion vorsprechen, um eine Nische in der Nische einer Nische der Aufmerksamkeitsökonomie zu ergattern. Die Miezen waren furchtbar nervös, aber Sprungbrett ist Sprungbrett und allzu tief konnte man hier nicht fallen.
Der Hingucker war nun im Bilde. Er verabschiedete sich höflich von den Miezen und ging zurück zu seinen Freunden, um ihnen Bericht zu erstatten.
Der Musiker nickte. Der Tänzer, dessen Empfindsamkeit ebenso fein ausgebildet war wie das Gehör des Musikers, nickte ebenfalls.
Langsam und nachdenklich.
Nachdem die Nacht nun eine so ungewöhnliche Wendung genommen hatte, stiegen drei Nochnichthainis in die Tram (21 / 13) und fuhren zurück nach Hause, in ihren eigenen Kiez.

  1. Hainis werden.

Die drei Nochnichthainis trafen sich am Frühstückstisch in der Küche ihrer WG wieder.
Sie überlegten, ob sie einen Kater hätten, oder einfach nur schlecht geträumt.
Zuerst ergriff der Tänzer das Wort. Er regte sich unglaublich darüber auf, wie es den armen Miezen dort drüben im Prenzlauer Berg ergangen war. Er redete sich in Rage.
Er sprang auf.
Er schwor beim Blut seiner Großmutter, dass er „höchst selbst etwas dagegen“ unternehmen würde.
Da hielt es auch den Musiker nicht mehr auf dem Stuhl.
„Niemals anbiedern!“, rief er. Und: „Nieder mit der Katzenmusik.“
Nun sprang auch der Hingucker auf. Er schüttelte die Faust und rief: „Wir gründen ein eigenes Magazin. Und nennen es… ähm, Moment, ich hab es gleich… Also unser Magazin soll heißen: ähm…
„HAINIS“ riefen in diesem Moment alle drei im Chor.
„HAINIS, HAINIS, HAINIS.
WIR BIEDERN UNS NIEMALS AN!“®

In der Innenseite des rechten Winkels ihrer L-förmigen Wohnung befand sich das fensterlose Wohnzimmer der WG. In dessen Mittelpunkt musste sich sich womöglich ein Zeitstrudel befinden. Eine andere Erklärung konnte es nicht geben.
Augenzeuginnen und Augenzeugen haben berichtet, dass sie häufig einfach nur am späten Vormittag auf einen Kaffee vorbeischauen wollten, aber diesen Raum erst am frühen Morgen des nächsten Tages wieder verließen. Mit dem Atemgeruch eines Metaxaochsen. (Oxi)

Die drei Nochnichthainis, die Kraft ihres Entschlusses die nächste Stufe der Evolution erklommen hatten und zu HAINIS geworden waren, zogen sich, noch am Frühstückstisch stehend, splitternackt aus.
Sie kippten unter heftigen „Yammas!“-Rufen einige Rakis in den anwesenden Leib, rannten hinüber ins Wohnzimmer und tanzten Sirtaki um den Zeitstrudel herum.
Damit verankerten sie ihren Schwur tief der Unendlichkeit des Universums.
Nun gab es kein Zurück mehr.

Ja! Sie werden ein Magazin herausgeben. (Natürlich auch, weil die Unendlichkeit, was Verträge angeht, ausgesprochen materialistisch reagiert, z.B. bei Dead°Lines)
Nein! Sie werden sich niemals anbiedern.

  1. Haini sein.

Die oben geschilderten, wahren Ereignisse liegen nun 15 Jahre zurück. In dieser Zeit wurden etwa 17 Hainis-Magazine herausgegeben. Diese Hefte haben weite Kreise gezogen.
Wie wir alle wissen wird gegenwärtig in der chinesischen Literaturkritik heftig die Annahme diskutiert, ob Sima Qiang (Szŭ-ma Ch’ien) der erste echte Haini gewesen sein könnte.

Dazu sagen wir: Das ist vermessen!
Dazu sagen wir: Das ist an den Haaren herbeigezogen!
Dazu sagen wir: Das ist reaktionäre Rekolonialisierung!

Sind wir Erben seiner Haltung? Hainis könnten sich dem anschließen.
Wer aber war dieser Mann?
Sima Qiang (Szŭ-ma Ch’ien) lebte vor 2100 Jahren in China.
Er war Dichter, Erzähler und Historiker.
Mit dem damals regierenden Kaiser geriet er in eine sinnlose Meinungsverschiedenheit.
Worum es ging? So genau lässt sich das nicht sagen.
Der Kaiser war derart erbost, dass er Sima Qiang zum Tode oder zur Kastration verurteilte.
Das war natürlich gemein.
Aber es entsprach der gängigen Moral, dem einschlägigen Zeitgeist und niemand ging auf die Straße, um dagegen zu demonstrieren.
Sima Qiang blieben also drei Optionen:

  1. Tod durch den Henker.
  2. Selbstmord aber Ehre.
  3. Kastration.

Jeder Leser oder Zuhörer mag hier kurz innehalten und sich ernsthaft die Frage stellen, wie er sich entschieden hätte.
Sima Qiang hat seine Entscheidung getroffen. Ich möchte ihn an dieser Stelle zitieren:
„Wenn es [das Werk] an Menschen weitergereicht werden kann, die es schätzen werden, und bis in die Dörfer und großen Städte dringt, was sollte ich dann, auch wenn ich tausend Verstümmelungen erlitte, bedauern?“
Wir wissen, dass Sima Qiang nichts zu bedauern hat. Sein Werk wird 2100 Jahre nach seinem Tod eifrig gelesen, weitergereicht und geschätzt.

Sima Qiang hat sich definitiv niemandem angebiedert.

                                                                                                                                                                                                                        H.Tweel